Archiv für den Monat: Januar 2021

Was von 2020 übrig blieb

Die überschüssige Freizeit in diesem Jahr füllte ich vor allem mit Büchern und Podcasts. Über meine True Crime Sucht hatte ich ja bereits geschrieben. Aber auch andere Inhalte gingen mir ziemlich nahe, man kann ja nicht ausschließlich Mord, Tod und Verderben konsumieren. Auf die Dauer geht das an die Substanz. Ich bin Mitglied in einer Bibliothek und lieh mir aus monetären Gründen öfter Bücher aus. So geriet ich an Ferdinand von Schirach´s „Kaffee und Zigaretten“. Ich fand leider keinen rechten Zugang zu den Geschichten, auf eine sonderbare Art und Weise verstand ich sie nicht. Ich gab das Buch zurück. Zur Hälfte ungelesen. Nach einigen Monaten fiel mir ein anderes Buch von ihm in die Hände, war es „Schuld“ oder „Verbrechen“? Ich erinnere mich nicht, aber ich war gepackt, geflasht und schwer beeindruckt. Ich verstand. Plötzlich verstand ich. Man kam ohnehin nicht daran vorbei. In der von mir bevorzugten Buchhandlung standen die Bücher ganz vorne als Bestseller, man konnte sie also kaum übersehen. Wenn mir alles zuviel wurde zog ich mich dahin zurück und las mich hier und da ein. Im Großen und Ganzen pflegt Ferdinand von Schirach den lakonischen Schreibstil, den ich selbst anstrebte und mit dem ich mich am ehesten identifizieren konnte. Die Geschichten überdies, die er als Strafverteidiger erlebt hatte, ließen mich nachdenklich zurück. Sie waren wie eine Bombe die nicht aufhörte zu zünden. Viele Sätze habe ich mir mir angestrichen. Ein Überbleibsel meiner Schulzeit. Mein Deutschlehrer bekam regelmäßig einen Wutanfall, wenn wir ein Buch lesen mussten und dieses unberührt blieb. Seiner Einschätzung nach musste dies vollgekritzelt und mit Notizen übersät sein. Heute verstehe ich ihn so gut. Außerdem kann jemand der schreiben kann nicht rechnen. Absolut richtig. Ich muss es wissen, ich arbeite in der Buchhaltung. Ein Textmarker im Nachttisch war daher Pflicht. Mein Jahresrückblick soll nicht das Thema Corona in Dauerschleife behandeln, sondern Bücher, die mich in 2020 begleitet haben und Sätze, die mich geprägt haben.

„Wenn alles still ist, geschieht am meisten.“ Soren Kierkegaard

„Nach den 20 Jahren als Strafverteidiger blieb nur ein Karton übrig, Kleinigkeiten, ein grüner Füllfederhalter, der nicht mehr gut schreibt, ein Zigarettenetui, das mir ein Mandant gechenkt hatte, ein paar Fotos und Briefe. Ich dachte, ein neues Leben wäre leichter, aber es wurde nie leichter. Es ist ganz gleich, ob wir Apotheker oder Tischler oder Schriftsteller sind. Die Regeln sind immer ein wenig anders, aber die Fremdheit bleibt und die Einsamtkeit und alles andere auch. „

Diesen Absatz konnte ich nicht lesen ohne in Tränen auszubrechen, wahrscheinlich weil so viel Wahheit darin steckt. In den letzten Wochen wurden im TV auch Verfilmungen von Schirach ausgestrahlt, etwa „Gott“ oder „Feinde“. Man kann den Büchern gegenüberstehen wie man will, eines schafft er auf jeden Fall: einen zum Nachdenken zu bringen. Wenn ich bei einem Fernsehabend nicht einschlafe , dann hat das was zu heißen. Wenn Juli Zeh und Ferdinand von Schirach als studierte Juristen solch erfolgreiche Schriftsteller sind sollte ich schleunigst eine Zeitmaschine besteigen, Abi machen und Jura studieren um danach Bestseller zu schreiben. Scheiße nochmal.

Viel feministische Literatur hatte ich außerdem gekauft. Von Margarete Stokowski „Untenrum frei“ und „Die letzten Tage des Patriarchats“.

„Uns allen hat das Patriarchat tief ins Hirn geschissen, dass Männer mehr wert sind als Frauen, und es ist unglaublich schwer, sich das alles wieder aus dem Kopf zu kratzen. Aber es gibt Situationen, bei denen es nicht darum geht, wie man die Welt für Männer noch gemütlicher machen kann.“ Recht hat sie!! Wer Feminismus begreifen will, dem seien die Bücher von Stokowski ans Herz gelegt.

Katja Lewina schreibt in „Sie hat Bock“ ungeschönt über Sex und die weibliche Libido – und das herrlich frei Schnauze „Auf der Straße, in der Koje, bei der Arbeit, selbst auf dem verdammten Kinderspielplatz – als Frau bin ich daran gewöhnt, dass mein Aussehen in jeder Lage ungefragt von Männern bewertet und kommentiert wird. Sie nennen mich Göttin, Abschaum oder irgendwas dazwischen, heben mich hoch oder trampeln auf mir rum, einig werden sie sich nie.“ „Glennon Doyle erzählt in „Ungezähmt“ aus ihrem Leben und wie sie sich als Ehefrau und Mutter von 3 Kindern von ihrem Ehemann emanzipierte und sich ihrer großen Liebe zuwandte- einer Frau. „Schlecht zu sein hatte mich fast umgebracht. Aber dasselbe galt auch fürs Gutsein. Weil wir nicht gut sein müssen, können wir frei sein.“ „Unsichtbare Frauen“ von Caroline Criado-Perez beschäftigt sich mit der Datenerhebund und Statistik weltweit und zeigt auf dass unsere Welt von Männern für Männer gemacht ist und tendiert dazu, die Hälfte der Bevölkerung zu ignorieren.

Das Thema Wechseljahre ist den Lebensjahren geschuldet und sollte schleunigst von der Flüsterecke auf die Hauptbühne befördert werden. „Woman on fire“ von Dr. med Sheila de liz und Katja Burkards „Wechseljahre? Keine Panik!“ klären auf amüsante und dennoch fundierte Art und Weise über wichtige Jahre im Leben einer Frau auf, es geht nämlich um unsere Gesundheit. Die Angst vor Hormonersatztherapien etwa wird schlüssig und behutsam aufgelöst. Für mich absolut logisch, ich erinnere mich was ich in der Vergangenheit so übliches hörte was Frauen in den Wechelsejahren durchzustehen hatten und mit dem Satz begleiteten „Ich habe es ohne Hormone geschafft!“ Genau da liegt der Hund begraben. Warum muss man überhaupt etwas qualvoll durchhalten, das wäre in etwa so, als würde man als Märtyer eine Wurzelbehandlung beim Zahnarzt ohne örtliche Betäubung über sich ergehen lassen und stolz darüber berichten es ohne geschafft zu haben. Wer würde sich freiwillig solchen Schmerzen aussetzen? So ähnlich verhält es sich mit der Angst vor Hormonen, obwohl sie uns quasi ausmachen. Zur Empfängnisverhütung gerne genommen aber als Subsitut verteufelt? Muss man überdenken.

Und um bei True Crime zu bleiben: „Ich ging in die Dunkelheit“ von Michelle Mc Namara. Sie hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, den von ihr so benannten „Golden State Killer“ ausfindig zu machen. Leider starb sie vor Fertigstellung des Buches und bevor der Serientäter gefasst wurde. Sehr tragisch. Die Journalistin Mc Namara war ein sogenannter Armchair Detective, sie recherchierte nachts vom Laptop aus und versuchte an Informationen zu kommen die Joseph James DeAngelo überführen sollten. Dieser Mann hatte jahrelang in den USA Menschen vergewaltigt und ermordet, die Behörden ermittelten lange Zeit erfolglos bis er 2018 festgenommen werden konnte. Als ehemaliger Polizist war er wohl immer einen Schritt voraus, aber konnte zum Glück, wenn auch Jahrzehnte später, gefasst und damit dingfest gemacht werden. Michelle war sicher eine tragende Säule in der Ermittlung, um so trauriger dass sie das Ergebnis ihrer Arbeit nicht mehr erleben durfte. Sie hinterlässt eine kleine Tochter und einen Ehemann, der vielen als „Spence“ aus „King of Queens“ bekannt sein dürfte.

Christoph von Schlingensief verstarb im August 2010. Seine Diagnose Lungenkrebs bekam er 2008. Sein Buch „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!“ ist so authentisch, wunderbar, schlimm und berührend wie nur völlig ungeschönte und ehrliche Literatur es zu sein vermag. Das Tagebuch seiner Krebserkrankung und Liebeserklärung an seine Frau Aino Laberenz ist so lebensbejahend, dass einem ganz anders wird. Man verneigt sich vor diesem großartigen Menschen und Künstler, ich bin sicher er wird unvergessen sein. Ob man nun etwas mit seinen Operninszenierungen wie Wagner anfangen kann oder nicht ist einerlei, seine Bücher und der Mensch Schlingensief sind lesens- und liebenswert.