Das neue Jahr hatte nicht gut angefangen. A rechter Scheißdreck war´s, verstehst? Ich hatte mich auf Silvester gefreut, ein schöner Jahreswechsel jedoch wie in meiner Imagination war nicht möglich. Zum einen, weil man mich nicht ließ, zum anderen, weil ich aufgab. Zuerst ging´s um Dinner for one und dann plötzlich um alles. Oder nichts. Auf Saufen hatte ich keinen Bock mehr. Meine Helmut Dietl Phase war bereits eingeläutet. Ich konnte den Lärm nicht mehr ertragen. Eine große Monaco-Franze-Sehnsucht packte mich. Brauchte Ruhe. Nein, Stille. War gewillt, diese einzufordern und alles andere über Bord gehen zu lassen. Mir doch egal. Trotz. Leckts mi alle am Oasch. Koa riesen Gaudi, verstehst? Am Ende wollen´s doch alle nur a lichtdurchflutete Altbauscheiße. Mitternacht war vorbei, das Geknalle und Geböllere dauerte nun schon über eine Stunde, meine Katzen drehten durch und das Elend hätte nicht größer sein können. Sie taten mir leid, aber vor allen Dingen tat ich mir selbst leid. So schee is des, kaum zum Aushoidn is des.
Wir hatten sehnsüchtig auf Squid Game (Staffel 2) gewartet und nun war ich nur angenervt, richtiggehend aggressiv. Das ewige Geschrei der Protagonisten zerrte an meinen Nerven, die russisch Roulette Szene ging mir an die Nieren. Kaum erträglich für mein Gemüt. Zu destruktiv. Wenigstens hatte ich eine Menge Inspiration in meinem Kopf, wenn der Rest mich schon extrem ankotzte. Zum einen war da ein Schreib-Workshop von und mit Doris Dörrie, sie sollte mir die Angst nehmen und mich davor bewahren, meine Phantasie zu verlieren. Seit ihrem Film „Kirschblüten – Hanami“ war ich Fan von ihr und die Möglichkeit, sie live zu erleben wenn sie schon in meiner Nähe war, wollte ich unbedingt nutzen. Ich durfte eine sehr kluge, reflektierte und charismatische Frau erleben wofür ich sehr dankbar war. Zum anderen war da die Künstlerin Marina Abramovic. Ihr Schaffen wurde mir auf Instagram in den Feed gespült und rührte mich von Sekunde eins. Es war purer Zufall, dass ich in Zürich sein würde während ihre Retrospektive im Kunsthaus gezeigt wurde und ich wollte ihre Kraft und Stärke unbedingt gebündelt auf mich einwirken lassen. Grenzgänger hatten mich schon immer fasziniert. Zum guten Schluss hatte ich noch Karten für eine Vortragsreihe von Dr. Mark Benecke. Seine wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Arbeiten hatten mir seit Corona den ängstlichen Arsch gerettet. Der rein faktenbasierte Blutspurenvortrag sollte mich erden und von meiner emotionalen Wolke herunter holen. „Reden wir über die messbare Wahrheit“. Das alles innerhalb eines Monats: keine schlechte Bilanz. Genau die richtige Medizin, um eine ohnehin fragile Frau nicht komplett in den Wahnsinn zu treiben. Manchmal dachte ich daran, zur Beruhigung einen Joint zu rauchen. Vielleicht würde mich das Kiffen ruhiger machen und wieder durchschlafen lassen. Aber ich vergaß es ständig und schlief dann doch wieder: nicht.
Von Kunst verstand ich nichts, aber ich verstand, wenn mich etwas berührte. Und das vermochte die Retrospektive bei Gott. Ich schwitzte wie ein Schwein und hielt mit Mühe und Not die Tränen zurück. Ich vermochte nicht in Worte zu fassen was ich gesehen hatte (Performance Kunst), aber ich verstand, dass Kunst nicht ästhetisch sein musste, auch nicht unterhaltsam. Sie musste noch nicht einmal Sinn ergeben. Sie musste Gefühle transportieren, Träume und Alpträume greif- und sichtbar machen. Zum Nachdenken anregen. Sie musste grenzüberschreitend sein und damit überschritt auch ich eine Grenze. Ich begriff: im Jahr 2025 musste ich über meine eigene Grenze gehen. Ich hatte jahrelang geduldet, dass meine Grenzen von Dritten überschritten wurden. Nun würde ich meine Demarkationslinie selbst ziehen und selbst entscheiden, wo und wie ich einen Fuß darüber setzen würde. Und ich würde noch heute damit anfangen.